In Yolanda Morales‘ Performance 2666 wird ums Überleben in einer patriarchalen Welt getanzt. Unsere Autorin stellt sich die Frage: Kann es in diesen Verhältnissen Emanzipation und Selbstermächtigung auf der Bühne geben?

Drei Menschen stehen am Rand eines Spielfelds: „Choose your player“, ertönt es aus dem Off. Darauf folgt eine mechanisch wirkende Aufzählung ihrer charakteristischen Körpermerkmale: Haarfarbe, die Augen, ein besonderes Muttermal . Sie setzen sich in Bewegung und starten das erste Level. Ziel des Spiels: Die nächsten 2666 Sekunden zu überleben.
Yolanda Morales erschafft in ihrer Live-Performance 2666 eine Videospielwelt, inspiriert vom gleichnamigen Roman des chilenischen Schriftstellers Roberto Bolaño. Mit Blick auf dieses Buch über Femizide in Mexiko wird schnell ersichtlich, dass Morales‘ stark abstrahiertes Game-Universum Parallelen zur realen Welt aufweist: wo weiblich gelesene und queere Menschen täglich Gewalt erleben. Untermalt von unbehaglichen Electrobeats bewegen sich drei Personen mechanisch wie Spielfiguren durchs Bild. Das Feld, auf dem sie sich bewegen, ist von harter Beleuchtung in klar abgegrenzte Bahnen eingeteilt, die sich während der Performance immer wieder verändern. Im Laufe der 45 Minuten erlernen die Spielenden neue Fähigkeiten, die sie nutzen können, um sich gegen Angriffe zu wehren. Explizit sichtbar werden solche Attacken nie – denn es geht ausschließlich um die drei Spielenden. Und doch schweben sie wie ein böses Omen über dem Geschehen.
Immer mal wieder verlassen die Spielenden den beleuchteten Bereich und tauchen im Schatten unter. Und jedes Mal steht kurz die Frage im Raum, ob sie wieder ins Licht treten werden. Das drängt hier an die Oberfläche: Dieses „Sag Bescheid, wenn du Zuhause bist“, das Unbehagen und die Angst, mit der weiblich gelesene Personen und queere Menschen allein nach Hause laufen.
„This is a Game“
Die Videospielästhetik von 2666 behauptet zunächst eine klare Grenze zwischen Fiktion und Realität. Aber bald wird klar, dass es so einfach nicht ist. So wirkt die ständige Erinnerung „This is a game“ der Stimme aus dem Off beinahe heuchlerisch – denn die Gefahr, um die es geht, ist ja real.
Wo also hört die Performance auf, und wo fängt die Realität an? Diese Frage rückt gerade bei einem digitalen Format wie einem Live-Stream in den Vordergrund. Denn die wohl größte performerische Stärke von 2666 sind die videospielartigen Lauf-, Spring- und Kampfbewegungen. Diese werden beeindruckend akkurat von den Tänzer*innen umgesetzt und sind zugleich ein 45-minütiges Ausdauertraining. Für die Zuschauenden ist die körperliche Anstrengung jedoch nur in sorgsam gewählten Close-Ups der Kamera zu erkennen: keuchendes Atmen, Schweißtropfen. Die Perspektive der Darstellung rückt durch die Technik in den Mittelpunkt. Wie in wirklichen Bedrohungssituationen schlägt die psychische Belastung ins Physische um.

Individuell erlebte Kollektiverfahrungen
Obwohl die Wege der Spielenden einander immer wieder kreuzen, handeln sie doch stets individuell. Sie laufen ihre eigenen Bahnen und erlernen eigene Fähigkeiten. Aber sie teilen die gleiche Bedrängnis, die auch im Publikum durch das Spiel von hartem Licht und pulsierender Musik erfahrbar wird. Die Individualität bricht auf, so zum Beispiel in einer Kampfszene, als die einzelnen Charaktere in einen fast symbiotischen Zustand treten. In diesem Level lernen sie Schläge und kämpfen allein gegen den gemeinsamen unsichtbaren Feind. Das löst beim Zusehen ein Gefühl der Selbstermächtigung und des Empowerments aus, denn die Spielenden formen eine Allianz und lernen, sich zu wehren. Ob diese Fähigkeiten aber ausreichen werden, um die 2666 Sekunden des Spiels zu überstehen, bleibt trotzdem bis kurz vor Ende ungewiss. Auch das ist eine Stärke der Inszenierung: offen zu lassen, was als Nächstes passiert. Und diese Spannung auch zu halten.
Doch als es aus dem Off heißt, dass ein „error detected“ wurde, ist klar, dass diese Nachricht nichts Gutes verheißt. Eine*r der Spielenden flieht in Richtung Kamera, während die anderen beiden aus dem Blickfeld verschwinden. Wenig später heißt es, dass eine Frau tot aufgefunden wurde. Die übrigen beiden starten unbeirrt wieder ins Spiel.
Das gerade erst aufgekeimte emanzipatorische Moment bricht durch diese Auflösung in sich zusammen. Übrig bleibt die Frage: Wie weit können individuelles Empowerment und Selbstermächtigung überhaupt gehen, wenn es am Ende doch patriarchale Strukturen sind, die Anfang und Ende der Geschichte unveränderlich vorgeben?
Lina Kordes
Eine weitere Besprechung zu dem Stück gibt es hier von Lea Terlau.
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