Das OUTNOW!-Festival ist vorbei, das müssen wir wohl irgendwie akzeptieren. Viele Eindrücke hallen noch nach – wollen sortiert werden – und fast immer warten am Ende auf die einfachsten Fragen die kompliziertesten Antworten. Aber umso mehr lohnt es sich wohl, sie auch zu stellen. Also Anna Maria Zimmermann, wie war’s?

Es war hoffnungsvoll, schön, lustig und kraftvoll. Es war nachdenklich, melancholisch, anstrengend und ernüchternd.
So lautet mein Fazit nach vier Tagen OUTNOW!-Festival. Diese Adjektive beschreiben zunächst erst einmal meine Eindrücke der Produktionen, die ich im Live-Stream, als explizit digitales Format oder als Video on Demand gesehen habe. Sie waren vielfältig, sowohl thematisch als auch formal. Manche waren Text-Collage, manche Performance, manche waren biografisch geprägt, manche waren ironisch. Aber zwei Dinge haben sie alle vereint:
1. Kanonisierte Stoffe der sogenannten Weltliteratur waren hier nicht zu sehen.
2. Die Inszenierungen waren für die meisten Zuschauer*innen nur am Bildschirm zu rezipieren.
Über die veränderte Wahrnehmung am Laptop habe ich bereits in einem anderen Artikel nachgedacht. Jetzt, am letzten Abend des Festivals, interessiert mich an der digitalen Rezeptionssituation vor allem, was sie für die soziale und physische Barrierefreiheit von Theater bedeuten kann. Und auch da reichen meine Gedanken von hoffnungsvoll bis ernüchternd.
Natürlich spielt die Wahrnehmung vor dem Bildschirm eine große Rolle in Bezug darauf, ob, wie oft und welche Art von Inszenierungen man sich in Zeiten der Pandemie ansehen möchte. Der Witz am Theater ist ja üblicherweise, dass man sich an Ort und Stelle des Ereignisses befindet. Dass eben lebendige Menschen miteinander in Kontakt treten, einander in die Augen blicken können, sich aufeinander einlassen und auf einander reagieren müssen. All das kann und muss ich nicht, wenn ich in Jogginghose vorm Laptop sitze. Für Viele ist das ein Argument dafür, lieber zu warten, bis es wieder „richtiges“ Theater gibt – und das ist leicht nachzuvollziehen. Wenn die sogenannte vierte Wand, welche das Publikum vom Bühnengeschehen sicher trennt, eben nicht in Form eines Bildschirms unüberwindbar bleibt.
Dennoch bleibt für Theaterschaffende und -hungrige im Moment nichts anderes, als sich mit der Übertragung von Aufführungen per Video zufrieden zu geben. Manche Theaterstoffe und Inszenierungsformen eignen sich für die somit entstehenden Streams und Online-Formate mehr als andere. Sowohl der vorgegebene Blick durch die Kamera als auch die Rezeptionssituation über einen Bildschirm sind filmische Elemente. Dementsprechend ähneln auch unsere Seh- und Rezeptionsgewohnheiten, wenn wir uns den Videomitschnitt einer Theateraufführung ansehen, eher denen, die wir vor dem Fernseher oder im Kino entwickelt haben. Inszenierungen, in denen bekannte oder greifbare Narrationen auf konventionelle Weise vermittelt werden und die konzeptionell kaum oder gar nicht auf die physische Anwesenheit von Zuschauer*innen angewiesen sind, funktionieren deshalb auf dem heimischen Bildschirm besser. Künstlerischen Ansätze hingegen, die darauf bauen, dass eine Form der Interaktion stattfindet, Momente des nicht Verbalisierbaren schaffen und immersiv arbeiten, haben es schwer, mit Videos dem analogen Original gerecht zu werden.
Ziemlich sicher beantworten die meisten Schauspieler*innen des Sprechtheaters die Frage, ob die physische Anwesenheit des Publikums ein konstitutives Element ihres Spiels ist mit „Ja!“, auch wenn die entsprechende Inszenierung nicht explizit darauf angelegt ist, diese Ko-Präsenz zu thematisieren. Dennoch lässt sich eine konventionelle Hamlet-Inszenierung vor dem Laptop besser konsumieren als eine experimentelle Tanztheaterproduktion, weil sich ein konkreter Handlungsstrang verfolgen lässt und beispielsweise rituelle Aspekte der Theatersituation vergleichsweise unwichtig sind.
Gerade unkonventioneller und experimenteller Theaterarbeit wünsche ich schon lange die Annahme durch ein breiteres Publikum. Und mit der Übertragung des Theaters auf digitale Plattformen geht für mich deshalb auch die Hoffnung einher, dass frei arbeitende Theatermacher*innen oder Projekte mit experimentellem Charakter ein größeres, weil ortsungebundenes Publikum erreichen. Wie aber sieht die Realität aus? Auch wenn mir dazu keine statistischen Daten vorliegen, beobachte ich sowohl im Gespräch mit Theatermacher*innen als auch an meiner eigenen Wahrnehmung vor dem Bildschirm: Die Umstände, mit denen die Bühnenkunst als Medium der „Liveness“ gerade zu kämpfen hat, sind für Produzierende jeglicher Theaterformen wie für Rezipierende äußerst widrig.
Eine grundsätzliche Frage, die mich schon lange umtreibt und die ich für eine naive Sekunde zumindest im Kontext dieser widrigen Umstände für gelöst hielt, ist die nach kultureller Teilhabe im Allgemeinen und die nach der sozial wie physisch häufig sehr schwer zugänglichen Theaterwelt im Speziellen. Dass Videomitschnitte oder gar Live-Streams von Theateraufführungen überall im Web verfügbar sind, sollte – wie schon gesagt – ein Schwellen abbauender Zustand sein. Dachte ich. Doch ein paar Momente später war mir auch schon wieder klar, dass die Häuser der deutschen Theaterlandschaft nicht alleine durch fehlende Aufzüge, zu wenig Platz zwischen den Sitzreihen oder zu vielen Abendgarderobeträger*innen in den Foyers für viele Menschen ausladend sind. Die Tatsache, dass jede*r Endgerätbesitzer*in mit Internetanschluss theoretisch die Möglichkeit hat, sich das digitale Theaterprogramm aus dem eigenen Schutzraum heraus anzusehen, führt anscheinend noch lange nicht dazu, dass dies auch tatsächlich geschieht. Und das liegt an vielen Faktoren: An mangelndem Diversitätsmanagement auf und hinter der Bühne. Am elitär anmutenden Kanon der Dramatik, die gespielt wird. An komplexen Erzählformen, die zu wenig vermittelt werden. An den Preisen der Tickets. An zu niedrigen Subventionen für die Institutionen und Kollektive selbst. Und… und… und.
Ich habe mich für dieses Blog beworben, weil ich unter anderem herausfinden wollte, welche Möglichkeiten des Schreibens über und Kommentierens von Theater es geben könnte, die dabei helfen, zumindest den Mangel an Vermittlung und Adressierung ein wenig aufzufangen. Das mag idealistisch klingen und ich möchte weiterhin an dieser Frage forschen. Dennoch habe ich auch hier gemerkt, dass meine Überlegungen vom Pol der Hoffnung bis zu dem der Ernüchterung reichen. Ich denke schon, dass Kulturjournalismus eine Sprache finden kann, von der sich nicht nur das finanziell saturierte Bildungsbürgertum angesprochen fühlt – und dass durch die Parallelität von Print- und Online-Formaten auch die mediale Reichweite im Jahr 2021 ein progressiver Faktor hin zu mehr kultureller Teilhabe sein kann. Diese schönen Wünsche und Ziele bleiben aber Utopien, wenn sich nicht grundsätzlich strukturell etwas ändert. Und diese Strukturen werden schon sehr, aber nicht nur am scheinbar abschreckenden Antlitz der von-der-Szene-für-die-Szene gemachten Spielpläne oder dem traditionalistisch-elitären Wind, der heute noch viele Theaterhäuser in Deutschland umweht, offenbar. Beides ist eher die Spitze des Eisberges.
Und deshalb denke ich: Wir brauchen mehr Off-Theater und Jugendclubs in den unterschiedlichsten Kontexten und von und für die unterschiedlichsten Communities. Damit junge Menschen jeglicher Sozialisierung die Chance haben, zu entdecken, welch selbstermächtigendes Potenzial der Theaterraum als Ort des Zwischen und des Anderen haben kann. Wir brauchen andere Lehrpläne. Nämlich welche, die nicht nur die obligatorische Faust-Vorstellung als einzigen Theaterbesuch der Schulklasse vorgesehen haben, sondern eröffnen, dass so viele Stoffe, Themen und Formen im und von Theater möglich sind, wie es Menschen gibt, die Lust haben Theater zu machen.
Wir brauchen Theatermacher*innen in allen Institutionen und Häusern, die Mut zum Experiment haben. Und damit meine ich nicht nur ästhetische Spielereien oder Skandalbereitschaft auf der Bühne, sondern den Teilabschied von Stoffen und Bildern an die nur die Bildungselite andocken kann. Wir brauchen mehr Geld. Für die Menschen, die Theater sehen möchten. Für die Theatermacher*innen. Für die Journalisten, die über Theater schreiben und sprechen möchten.
Das alles war schon „vor Corona“ so. Streams und Online-Formate schaffen also erst dann ein Mehr an kultureller Teilhabe, wenn einerseits soziostrukturelle Schwellen beseitigt sind und andererseits die digital zur Verfügung gestellten Inszenierungen auch so geartet sind, dass die physische Anwesenheit nicht konstitutiver Teil ihres Konzeptes ist.
Auch wenn die von mir formulierten Idealbedingungen jemals Realität werden sollten, wird sich ein Großteil der in Deutschland lebenden Bevölkerung noch immer nicht so gerne Theater ansehen wollen wie ich und schon gleich gar nicht die Inszenierungen, die ich besonders schätze. Und das ist völlig in Ordnung. Ich interessiere mich ja auch nicht für alles, was andere toll und wichtig finden und deren Herz berührt. Aber eingeladen sein und lieber auf eine andere Party gehen ist etwas anderes als nie eine Einladung zu bekommen.
In diesem Sinne: Bleibt gesund, passt auf euch auf und streamt so viel Theater wie ihr Lust, Zeit und Geld habt! Ich freue mich auf das nächste OUTNOW!-Festival – hoffentlich dann analog und vielleicht ja auch zusätzlich mit Stream, wer weiß?
Anna Maria Zimmermann