Hitler Baby One More Time heißt die Performance von Dor Aloni (Regie und Schauspiel) und Raban Witt (Autor). Julia Gudi, Tina Waldeck und Lea Terlau haben die beiden live und auf Zoom getroffen. Herausgekommen ist ein Gespräch über die Bedeutung von Identität(en) für das eigene künstlerische Schaffen, das Spiel mit der vermeintlichen Sicherheit der Zuschauenden und die Frage, welche Rolle der Humor dabei spielt.

Outnow-Blog: Hallo Dor und hallo Raban, schön, dass wir uns (im digitalen Raum) treffen. Einige von uns saßen gestern auch live im Publikum. Für mich war es beeindruckend, wie ihr mit Emotionen, Humor und Ironie gespielt habt. Welche Rolle spielen diese Ausdrucksmittel für euch als Künstler in dieser Produktion?
Dor Aloni: Lustigerweise halte ich Ironie auf der Bühne immer für ein No-go. Zumindest als klassischer Schauspieler, der an einer Schauspielschule in russischer Tradition studiert hat. Aber als ich angefangen habe, selber Theater zu machen, habe ich gemerkt, dass diese Prinzipien nur für die Bücher gut sind. Was hier vielleicht für Ironie gehalten werden könnte, ist die Tatsache, dass das Publikum nicht immer wissen kann, was ich wirklich meine, wenn ich etwas sage, oder was auf sie zukommt. Ich manipuliere das Publikum, damit bei ihm bestimmte Meinungen über mich entstehen, die ich danach wieder brechen kann. Ich erzähle Geschichten nicht, als wäre ich bei meinem Therapeuten auf der Couch, sondern um eine Reaktion in den Zuschauenden zu erzeugen.
Raban Witt: Wir spielen damit, dass das Publikum sich nie ganz sicher fühlen kann. Humor ist für uns ein subversives Mittel, um etwas auf den Punkt zu bringen, zuspitzen und dahin zu gehen, wo es wehtut. Wir wollen in der Performance dem Publikum keine Lösung anbieten, sondern eine Behauptung aufstellen: “So jetzt habe ich wieder festen Boden unter den Füßen”, um den dann wieder wegzuziehen. Da ist Humor ein Mittel, das wieder umzudrehen. Das ist eine Reaktion auf eine gewisse Erwartung innerhalb der Performance bei den Zuschauenden, die wir vermuten. Gleichzeitig gibt es aber auch dieses Verlangen: „Da kommt jemand auf die Bühne und der erzählt uns jetzt seine Geschichte, das ist etwas Echtes, etwas Authentisches”. Wir nehmen dieses Gefühl mit und holen die Leute da auch ab, aber führen sie damit auch in die Irre oder locken sie in eine Falle.
B: Wie war das für euch, keine direkten Reaktionen vom Publikum zu bekommen? Wie seid ihr im Stück mit dieser besonderen Situation umgegangen mit einer Kamera zu spielen?
D: Eigentlich gibt es im Stück zwei Akteur*innen: Es gibt das Publikum und es gibt mich auf der Bühne. Und unsere Rollen wechseln. Mal habe ich die Opfer- und das Publikum die Täterrolle und dann dreht es sich um und dreht sich nochmal um, und so weiter. Vor der Pandemie, als ich das noch nicht im Livestream gemacht habe, habe ich meinen Pass und die anderen Dokumente durchs Publikum gereicht. Auch die Orangen wurden ans Publikum verteilt und die Leute haben sie auf die Bühne und auf mich geworfen. Mit Kameras ist das Arbeiten natürlich anders, weil ich auf die Reaktionen der Menschen nicht unmittelbar reagieren kann. In dieser Version behandle ich die Kamera einerseits wie vorher das Publikum. Andererseits sind die Kameraleute auch meine Spielpartner*innen. Da haben wir eine ganz eigene Dynamik miteinander entwickelt. Vorher hat das Publikum außerdem selbst entschieden, wo es hinguckt, was es fokussiert. Und jetzt muss ich mich entscheiden, in welche Kamera ich spreche und es gibt plötzlich auch jemanden, der am Schnittpult sitzt und den Blick von allen Zuschauer*innen bestimmt. Das heißt eben auch, dass es in dieser Version einen zweiten Regisseur außer mir gibt – und der heißt in Bremen Can. Der hat einen wunderbaren Job gemacht, ich konnte mich vollkommen auf ihn verlassen.
B: Du, Raban, hast erst kürzlich ein Buch mit Essays von Carl Hegemann, ein deutscher Autor und Theaterschaffender, über die Dramaturgie des Daseins herausgegeben. Darin gibt es auch Referenztexte von Christoph Schlingensief. Gab es bei diesem Stück Punkte seiner Inszenierungen, die wichtig für euch waren?
R: Wenn man heute über Theater nachdenkt, kommt man an Schlingensief nicht vorbei. Gerade wenn es um die Frage nach dem Realen im Theater geht. Auch die Art, wie Schlingensief sich selbst angreifbar gemacht, auch die eigene Unzulänglichkeit ausgestellt hat, war sicher ein Einfluss für die Arbeit. Das steckt bei „Hitler Baby“ zum Beispiel im Motiv des Täterwerdens, um nicht mehr Opfer sein zu müssen. Das ist bei uns ja zugespitzt in der Szene, wo Dor ein Ameisenvolk ermordet und sich dabei als Hitler inszeniert. In dem Moment macht er sich angreifbar und erschwert die Identifikation, die sich viele nichtjüdische Deutsche im Publikum vielleicht wünschen würden. Wenn man sich mit dem Opfer identifiziert, kann man für den Moment ja die Seiten wechseln, man wird sozusagen selbst zum Opfer und braucht sich nicht mehr schuldig fühlen. Aber in dem Moment steht da eben kein Opfer, sondern ein Täter.
B: Haben euch die Reaktionen des Publikums überrascht, als das Stück vor der Pandemie live aufgeführt wurde?
R: Bei der Szene mit den Ameisen tatsächlich schon. Mich überraschte, wie stark Menschen sich darüber empörten. Es überraschte mich deshalb, weil Ameisen etwas sind, was schon alle Menschen einmal umgebracht haben. Zum Beispiel wenn man über eine Wiese läuft und man denkt sich nichts dabei.
D: Da kommt die Intention ins Spiel. Nicht dein Handeln ist böse, sondern die Intention dahinter.
R: Es war zudem der Versuch, etwas real Böses zu machen. Die Empörung wäre auf jeden Fall größer gewesen, wenn es ein Kaninchen gewesen wäre. Das Kaninchen ist irgendwie ein süßeres Tier, da gibt es eine stärkere emotionale Bindung als zu Ameisen.
D: Was könnte ich noch auf der Bühne tun, was real böse ist? Außer vielleicht – wie im Stück – dem Publikum meine Familie zu opfern, in dem ich von ihr erzähle, indem ich ihre Geschichten benutze. Oder das auf der Bühne zumindest zu behaupten. Die Geschichte mit den Ameisen habe ich tatsächlich in meiner Kindheit so erlebt. Heute erstaunt mich die Wut, die ich dabei als Kind hatte. Ich frage, was schief gelaufen ist, als mir der Holocaust als Kind vermittelt wurde. Die Antwort darauf gebe ich, wenn ich auf der Bühne als Erwachsener die “Ameisen-Holocaust”-Szene nachspiele: Ich habe gelernt, mich wie ein Überlebender zu fühlen.
B: In der Szene, in welche deine Mutter in ihrer “Muttersprache“ auf der Leinwand spricht und du eigene Worte über ihre Aussagen legst, zeigt ihr ausgehend von Sprache, wie sich Identität auch durch Fremdzuschreibungen konstruiert. Was bedeutet für euch diese Vermischung aus Fremd- und Selbstzuschreibung?
R: Identität ist ja die Art, wie man sich selber erzählt und wie andere einen erzählen. Man versucht, sich selbst als Einheit wahrzunehmen aus seinem Leben eine zusammenhängende Geschichte zu machen. Aber die Wirklichkeit ist eigentlich immer komplizierter und chaotischer. Durch Identität kann man handlungsfähig werden, wirkmächtig werden – aber Identität ist eben auch ein enges Korsett, das man sich anlegt, oder das andere einem aufzwingen. Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich Dor bzw. Dors Bühnenpersönlichkeit im Stück: Er sucht nach Identität und er wehrt sich dagegen, auf eine festgenagelt zu werden.
D: Als jemand, der hier in Deutschland arbeitet, frage ich mich: Was? Jetzt muss ich die ganze Zeit über den Holocaust sprechen? Da muss ich mich erst einmal hinstellen und sagen: „Nein, ich will das nicht.“ Der Holocaust ist nicht meine Geschichte, ich habe die Holocaust nicht erlebt, sie gehört nicht mir. Die Shoa gehört nicht den Juden, sondern den Deutschen, wenn überhaupt. Aber indem ich mich davon abgrenze, thematisiere ich es auch gleichzeitig immer wieder. Wie kann ich diesem Kreislauf entkommen? Die ganze Dramaturgie des Stückes entsteht aus dem Motiv der Flucht: Ich fliehe von der Armee, ich fliehe von zuhause, ich fliehe aus der Stadt, aus dem Land und um die ganze Welt, bis ich in Deutschland ankomme, und muss mich an mich selbst wieder erinnern oder vielleicht eher erinnert werden. Und das alles dank Hitler.
B: Im Stück thematisiert ihr die Fragen: „Wer bin ich? Und wer bin ich nicht und wer möchte ich für andere nicht sein?” Stand von Anfang an fest, dass diese Geschichte auch immer nur durch dich transportiert werden kann?
D: In meiner folgenden Arbeit spielten andere Schauspieler*innen meine Rolle: den Regisseur, den größenwahnsinnigen Regisseur (lacht). Mir ging es darum, die Machtspiele zwischen Regisseur*innen und Schauspieler*innen, Theater und Publikum, und den Mikrokosmos Theater zu benutzen, um mich mit den Machtmechanismen zu beschäftigen, nach denen die Welt überhaupt funktioniert.
R: Du sagtest zu Beginn: „Ich will einen Solo-Abend machen, ich will selbst spielen.“ Du wolltest von deinen Geschichten ausgehen. Und daraus haben wir dieses Spiel entwickelt – diese Ungewissheit, diese Mischung aus Lüge und Wahrheit. Du wolltest in deiner Arbeit von dem ausgehen, was dich geprägt hat, aber ohne dabei diese schreckliche Erwartung zu erfüllen, dass du authentisch davon erzählst, woran du leidest. Im Theater wird ja manchen Leuten zugestanden, alles zu verkörpern, sich in alles zu verwandeln. Und von anderen wird eben erwartet, ihr angeblich authentisches Selbst zu verkörpern, wenn sie auf die Bühne kommen. Dann feiert sich das Theater immer, weil es jetzt denen eine Stimme gibt, die sonst zu wenig gehört werden. Aber eigentlich ist das auch eine Gemeinheit.
D: Interessiert man sich am Theater wirklich für die Menschen, oder nur für ihre Geschichten? Ist es nur die Ausbeutung der Geschichten, um daraus einen schönen Abend zu machen? Oder um uns zu zeigen, dass wir eine geläuterte Gesellschaft sind? Ich frage mich immer, ob ich hierher eingeladen bin, weil ich Jude bin? Weil ich das thematisiere? Bekomme ich einen Vertrag, nur weil ich Ausländer bin? Manche Leute sagen, dass ich heutzutage mehr Chancen habe als andere, weiße Regisseur*innen. Das stimmt aber nicht. Vielleicht würde es eher stimmen, wenn ich mehr machen würde, was von mir erwartet wird: einen konstruktiven gesellschaftlichen Beitrag zu leisten und beim Gedächtnistheater mitzuspielen.
B: Für mich habt ihr die Vorstellung von Authentizität und diesem sogenannten Betroffenheitstheater kritisiert. Also, dass Menschen ständig auf der Bühne ihre Betroffenheit unter Beweis stellen müssen, um als glaubwürdig angesehen zu werden. Wie siehst du das?
D: Der Versuch ist gescheitert! Ich habe es nicht geschafft, dieser Rolle zu entkommen. Ich will mich nicht nur mit diesen Themen im Theater beschäftigen, ich würde auch gerne mal was ganz anderes machen. Ich liebe Tschechow zum Beispiel, das würde ich viel lieber machen, als irgendwo „Nathan der Weise“ zu inszenieren. Und wenn jemand sagt: „Ja, du machst da so Stücke über Nazis und Holocaust“, dann sage ich: „Nein!“ Ich versuche Geschichten sehr persönlich zu erzählen und nicht allgemeingültig. Das ist alles.
Vielen Dank für das inspirierende Interview und eure Zeit, alles Gute für die Zukunft!
Tina Waldeck, Julia Gudi, Lea Terlau