Hyperventilation vertanzter Traumata

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Ein Abend über Krieg und die Erfahrung der Gewalt am vorletzten OUTNOW!-Tag. Doch wie verhält sich die Tanz-Performance „Ready to Snap“ wirklich zur Welt da draußen?

VON LILI HERING I Hyperventilation (von altgriechisch hypér “über“ und lateinisch ventilare “fächeln“): Übermäßige Steigerung der Atmung, zu starke Beatmung der Lunge. Eine Hyperventilation kann als Störung der Atemregulation aus psychischen oder körperlichen Gründen, als Reaktion auf eine Unterversorgung oder auch bei kontrollierter Beatmung auftreten. Sie kann aber ebenso als Stilmittel und Tongebung im zeitgenössischen Tanz erscheinen, wie es hier Patricia Carolin Mai in „Ready to Snap“ zum Ausdruck bringt. Der Abend beginnt mit einer Serie von Schnappschüssen: Die zwei Tänzerinnen, Mai selbst sowie Angela Kecinski, wechseln in sandfarbenen Einteilern mit freiem Rücken im Dunkel der minimalistischen Bühne die Pose: Mit den Lichtwechseln sind sie mal nebeneinander, aufeinander, meist angespannt, mal ruhiger. Schnell wird es wilder. Sie rennen, rollen, schwingen, stoßen, werfen sich zu Boden, springen wieder auf, schlagen sich auf die Brust. Die Bewegungen, allesamt bis an ihr Äußerstes getrieben, werden untermalt von ihrer lauten Schnappatmung, die Musik oder Melodie ersetzen will.

Zwei Mähnen, blond und braun

Mit der Zeit liest sich der englische Titel, „Ready to Snap“, immer mehr wie ein Verweis auf den schmalen Grat zwischen Aushalten und Durchdrehen, zwischen Anspannung und Ausbruch. Die Thematik erklärt aber vor allem der Programmtext: „Ready to Snap“ ist eine Auseinandersetzung mit den Einwirkungen extremer Situationen oder Bedingungen – Krieg, Terror, Flucht – auf den Körper und seine Bewegungen. Die zwei Tänzerinnen tanzen verwundete Körper, sie tanzen äußerste Anstrengung, die sich durch anschwellendes Zittern bemerkbar macht, sie tanzen die Verzweiflung, hinter Mauern eingesperrt zu sein. Sie tanzen Erschöpfung, Angst und Erholung. Die Pferdeschwänze lösen sich, bald springt das Haargummi davon und zwei Mähnen, eine blond, eine braun, verdecken die Gesichter. All das ist sehr körperlich und sehr beeindruckend. Doch ist das Körperliche die Essenz oder das, was dahinter steht? Und hat die Übersetzung einer Extremsituation auf einer Bühne unbedingt extrem auszusehen? Kann eine derartige Situation auch nur ansatzweise reproduziert werden – und will sie überhaupt verbildlicht werden?

Draußen ist es extremer

Der Choreografie liegt Rohmaterial zugrunde: Interviews mit vier Personen im Umfang von acht Stunden, deren fünfminütige Zusammenfassung nach dem Tanz zu hören ist. Die vier Sprechenden erzählen von lebensbedrohlichen Umständen, in denen sich Geist und Körper anpassen müssen, verändern also, wie auch die Atmung. Die Tänzerinnen wollen Kollaps und Horror gerecht werden durch Körperlichkeit im Sinne von Antonin Artauds Theater der Grausamkeit. Doch die Choreografie versucht zu sehr individuelle, konkrete Erfahrungen in allgemeine Leidensbilder zu übersetzen. Der Tanz, so mitreißend und aufreibend er auch ist, wird zur Selbstgeißelungsshow, deren Motive dem Gemeinten uneindeutig gegenüberstehen. Und als dann noch eine Geigerin auftritt, versackt das Extreme langsam im Kitsch. Wirklich extrem geht es eher draußen in der Welt zu.

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