Diese Ordnung muss sein

[:de]Ein Theaterabend über die letzte Universalenzyklopädie der Menschheit? Klingt komisch, ist aber toll. Und sieht dabei auch noch ganz zauberhaft gut aus.

VON LILI HERING I Könnten Sie anhand des Lockrufs eine Blaumeise von einer Elster unterscheiden, am Geräusch einer Maschine erkennen, wer sie erfunden hat und ob es sich lohnt, in sie zu investieren? Sagt das Plätschern des Wassers aus, welche Sorte Fisch in ihm schwimmt? Und wissen Sie, wie man die Essenz dieses Fisches auf Papier bringt? Erkennen sie am Knuspern eines Toasts, wer von ihm abbeißt? Keine Sorge, sollten Sie all das nicht wissen. Die Antworten auf diese Fragen und noch viele weitere, nämlich alle, die es gibt, entnehmen sie Stephan Dorns Lebensenzyklopädie dem ersten vollständigen und daher „letzten Lexikon“, das einer Reihe ambitionierter, jedoch niemals fertiggestellter Werke namhafter Autoren folgt.

Es fehlt allein ein Ende

Besagter Stephan Dorn, der seinen Namen lieber unausgesprochen und durch ein Vogelzwitschern ersetzt weiß, sitzt unbewegt auf einem Drehstuhl vor einem Bildschirm, umgeben von Pflanzen, Äpfeln, Lampen, einer kleinen Welt mitten in einer Art mobilem Gewächshaus. Zehn Jahre lang hat er damit verbracht, ein Weltarchiv zu erstellen, von sich selbst und seiner Umgebung ausgehend auf das sehr große, allumfassende Ganze. Das Werk sei nun vollbracht, informiert uns eine Frauenstimme vom Band: Wissenschaften, Künste, Natur, Objekte, alle Ideen, Konzepte, Begriffe sowie „alle Sichtweisen und Verhältnisse aus allen Blickwinkeln“ – „alle Menschen und ihre Beziehungen zueinander“ sind definiert und festgehalten. Es fehlen nur ein würdiges Ende, der letzte Satz und ein Punkt. Stephan Dorn, den sich ewig drehenden Ventilator der Zeit über dem Kopf, spricht nicht, er überlegt. Und so übernimmt das Tonband den beredten Part – und liefert ein Mosaik an Wissen, Unwissen, Sinn und Unsinn.

„Ordnung“ ist eine präzise – eben penibel geordnete – Choreographie aus Licht und Ton, ein Sammelsurium an vorwiegend auditiven Eindrücken, die immer aber in Relation zu ihrem visuellen Gegenstück stehen: Vogelflattern zu Lichtaufblinken, Gewittergroll zu Nebelaufkommen.

Das Haus, voll ausgestattet, ist ein Innenraum im erweiterten Theaterinnenraum. Die Glühbirnen glühen, die Lichter gehen nur so auf vor lauter Auskünften. Jedes Mal, wenn die Stimme ankündigt, es sei jetzt nun so weit, der letzte Satz werde gleich geschrieben, singt uns Joe Dassin in immer neuen Sprachen von der Einfachheit des Lebens auf den Pariser Champs-Élysées vor.

Eine Ode an das Analoge

Stetig folgt der Abend einer Dramaturgie der Überforderung: Kam denn jetzt erst die Henne oder das Ei, oder der Fisch oder der Kaviar, oder etwa der Vogel, der ja aber eigentlich ein Fisch ist, weil ein ins Wasser gefallener Vogel? Es heißt: „Nicht alle Informationen sind wichtig, aber es gibt sie.“ Doch wieviel Information muss ein Mensch vertragen können? Und hat Stephan Dorn eigentlich die Weisheit mit Löffeln gegessen, oder tut er nur so? Weder noch, sein Lexikon entpuppt sich als extrem komisches Archiv der Absurditäten, und die Anekdoten kommen unter dem Deckmantel der Wissenschaft daher – die Essenz eines Fisches erhält man übrigens durch das Abkochen von Aquariumswasser, in welchem sich ein Stück Papier aufgelöst hat, und indem man die Überbleibsel wieder zu Papier presst und einen Fisch darauf zeichnet.

Dorn°Bering zeichnen in Bild und Ton einen geschickten Essay über die vermeintlich ganz einfachen Themen: Das Leben selbst und die Welt allgemein. Der Abend ist, ebenso wie die Enzyklopädie, eine Ode an das Analoge und Einzigartige, an Handfestes: Papier, Archiv, technisch nicht Reproduzierbares, ein „Versuch, der Welt in analoger Form gerecht zu werden.“ Damit ist er auch ein Abgesang auf die Technik. Das menschliche Bedürfnis nach Konservation wird in Retro-Manier befriedigt. Ein totes Tier auf der Bühne soll daran erinnern, dass alles abgeschlossen werden kann. So wie auch dieser Text. Das ist mein letzter Satz.[:]