[:de]Der zweite OUTNOW!-Tag bringt eine Begegnung mit Ronald M. Schernikaus 37 Jahre altem Coming-Out-Roman „Kleinstadtnovelle“. Doch wie nahe kann uns das Jahr 1980 auf der Bühne heute noch gebracht werden?
VON KATJA ZELLWEGER I Die Jugend – wonach riecht sie denn? Schlechten Ausdünstungen, wilden Hormonen, amourös-sexuellen Entdeckungen und Enttäuschungen, Sperma, Streit mit den Eltern, Gruppendruck, Identitätskrisen, Alcopops, Zigaretten, Joints, und Axe. Axe verspricht die Hoffnung schlechthin: Egal, wie scheiße dein Flaum aussieht, wie viele Pickel du hast oder wie uncool du bist – mit etwas Duft aus dem Aluding „nimmst du dein Schicksal selbst in die Hand“ und legst jede flach: „Bom Chicka wah wah“. Die Inszenierung „Kleinstadtnovelle“, eine Adaption des Coming-of-Age und Coming-out-Romans von Ronald M. Schernikau durch Regisseur Moritz Bleichl, riecht tatsächlich auch nach Axe, das beim jugendlichen Partygerangel versprüht wird. Die Hauptfigur B., vom unglaublich schlacksigen und verwuschelten Alexander Angeletta authentisch verkörpert, durchlebt nämlich die Adoleszenz im Wissen um seine Homosexualität. Die kann und will er nicht vertuschen wie ein Deo die Ausdünstungen. Mit der verständigen Mutter kann er sich kindlich trotzend über den Gebrauch von Deodorants streiten, aber auch abgeklärt über Schwänze unterhalten. Die Klassenfahrt bereitet ihm Sorgen und die Männerdusche nach dem Sport verweigert er aus ideologischen Gründen.
Abgang in totaler Negation
Die Anpassung schmeckt dann aber doch nicht so bitter: Im Alkoholrausch gesteht er seinem Klassenkameraden Leif seine Zuneigung. Leif erwidert sie völlig unerwartet, woraufhin regelmäßig schweigsame aber umso experimentierfreudigere Zusammentreffen der beiden stattfinden. Es wird einvernehmlich rumgetobt, an den Zehen gelutscht, geknutscht und auch gefickt. Dennoch kann Leif den Ekel vor seiner eigenen Neigung zunehmend schlechter handhaben, was die Inszenierung gelungen verdeutlicht: Genüßlich langsam sabbert er Spuckefäden in B.s Gesicht, um sie dann fast liebevoll mit einem Taschentuch wegzutupfen. Als B. im Spass betont, er sei Leifs Fräulein, macht dieser den definitiven Abgang in totaler Negation: „Ich bin nicht schwul!“, zu rufen und schließlich B. in der Schule auflaufen zu lassen ist das Einzige, was ihm zur Beruhigung einfällt. B. indes setzt der Jugend auf dem Dorfe ein Ende, indem er die Schule absitzt und gleich danach nach Berlin ausbricht.
Mehr als nur Klischees?
So weit der Plot der «Kleinstadtnovelle», einem autobiografischen Kassenschlager und Erstlingserfolg des Gymnasiasten und mit nur dreißig Jahren an Aids verstorbenen Ronald M. Schernikau. Die Inszenierung aber riecht zumindest hier, im Rahmen des OUTNOW!-Festivals, etwas zu stark nach schauspielhausiger, konventioneller Literaturadaption, dabei dürfte es ruhig etwas mehr nach Gegenwart stinken. Da vermischen sich zwar Checkpoint Charlie und Berghain, Retromöbel und Paletten-Bett, Bier wird an die Zuschauer verteilt und die vierte Wand mit etwas abrupten Interaktionsmomenten geöffnet. Doch viel tiefer geht die Vergegenwärtigung nicht. Die Konflikte der zwei Jugendlichen, insbesondere von Leif, bleiben etwas grell und abstrakt beleuchtet. B.s Zurückweisung wiederum wird nur erzählend reflektiert.
Der größte Wermutstropfen an der Inszenierung bleibt aber das Hauptthema Schwulsein: Obwohl die Dringlichkeit des Themas klar spürbar wird, lehnt sich die Umsetzung nicht aus dem Fenster. Klar, Identitätssuche orientiert sich auch an steifen Kategorien, dennoch ist die Pauschalisierung, dass alle Schwulen anders seien, respektive «Musicals lieben» ziemlich einfältig. Auch wenn das ironisch gemeint ist, geht die Inszenierung doch nur bedingt über dieses Klischee hinaus, demontiert sie zu wenig und lässt aktuelle Genderdebatten aus. Ob dies eine von der Regie beabsichtigte Versimplifizierung auf den jugendlichen Erstkontakt mit Homosexualität ist oder schlicht ein ungelöstes Problem im Umgang mit einer Vorlage von 1980, erschließt sich nicht eindeutig. B. steht zwar selbstbewusst und in Röhrenhose zu seinem Schwulsein und auch die gender-transgressive Möglichkeit, vielleicht doch eine Bernadette oder ein Benedikt zu sein, scheint ihm interessant. Ansonsten aber herrscht einfach große Freude an Schminke, Burleskem und Frauenkleidung. Das „seltsame, unerhörte Ereignis“, wie es Goethe in seiner Novellentheorie benennt, ist in diesem Fall dann einfach das Schwulsein an sich. Die Inszenierung vollzieht also den Wechsel vom billigen, jugendlichen Axe zum betörenden Geruch der Adoleszenz im Sine eines „Coming of Axe“ – aber nach zeitgenössischer Novella, nach «Neuigkeit», riecht sie dabei nicht.[:]