In dem digitalen Theaterstück Look at Me! verwandelt sich Solveig Hörter aus Gießen in die Kunstfigur Ole. Unsere Autorin hat einen persönlichen Brief an Ole über Nähe und Distanz, die Formbarkeiten von Identitäten sowie Fremd- und Eigenzuschreibungen geschrieben.

Zwei Stunden nahm ich mir gestern Zeit für einen Blick zu dir. Im Zoom, im digitalen Raum: normative Ordnung des Augenblicks. Warst du da? Noch ein Schwarzbild. Dann öffnete sich ein Fenster: erstes mediales Beschauen. Zierlich, mit schwarzen, mittellangen Haaren, so hing mein Wahrnehmungsrahmen noch lange im Ersteindruck fest, während ich meine Kopfhörer aufsetzte, um zu verstehen, was in diesem Raum oft nicht zu verstehen ist. Für meine Empfindung gab es nur: Dich und mich. Ich war vorbereitet, auch nur mit dir alleine zu interagieren, mit dir, Ole. Schnell war ich geknickt. Du benutztest distanziert den Chat und nahmst mir die Antwortmöglichkeit. Kein Dialog konnte so zu einem Wir werden. Doch freundlich und aufmerksam blicke ich zu dir und gleichzeitig unbehaglich in meine nicht laufende Webcam, die ich plötzlich hastig überklebte. So sahst du meinen Blick ganz gewiss nicht. Vorsichtige Annäherungen von uns (zunächst) im Beziehungs-Kosmos.
Andere Lebewesen sollten inszenieren, wie, wer und wo du jeweils 10 Minuten bist, erklärtest du lange in deinem Chat. Kurz überlegte ich, wie ich selbst dies mit dir wohl umsetzen würde, als ich auf ein Umfragefenster blickte. Du fragtest, welches Fragment davon ich nun sehen wolle? Mir blieb keine Zeit noch einmal sorgsam über alle von dir vorher aufgezählten Namen der Personen, die dich inszenieren sollten, im Chat zu lesen und ließ dessen Verlauf auf sich beruhen. Und doch: Ich wollte alle kennenlernen und alles wissen! So war ich unsicher, ob meine Entscheidung dazu führen könnte, ob eine dieser Personen am Ende ausgeschlossen würde, und klickte bedacht.
Während ich mich noch bemühte, anhand der Ergebnisse die Anzahl aller Lebewesen im digitalen Spielfeld zu definieren, spieltest du eine Aufnahme in einer Umkleidekabine ab: Jugendliche, die für Parcours trainieren und somit lernen, Kontrolle über ihre eigenen Körper zu haben. Ich musste schmunzeln. Dieser Blick hier zu dir war ganz anders, als wie ich dich kennengelernt hatte, fremd, noch fremder, irgendwie mehr du und doch nicht du. Überfordernder Facettenreichtum. Jedoch akzeptierte ich die Wandlung schneller als erwartet. Ein Teil-Du, im Experiment des Kennenlernens und ein weiteres vorsichtiges Annähern im Identitäten-Kosmos.
Auch bei der nächsten Umfrage saß ich dir wieder gegenüber und mir war die Entscheidung ganz egal, wieder wollte ich einfach nur alle Fragmente sehen. Und du schafftest es mit jeder neuen Aufnahme, meine inneren Annahmen neu zu überlagern. Nicht alle Inszenierungen waren im Vorfeld von dir, von anderen, vorgezeichnet. So inspirierte dich ein Vergleich, dass du aussiehst, wie ein türkischer Schauspieler: Schnell sprangst du vor mir auf und konstruiertest augenblicklich einen dazu passenden Raum.
In deiner Aktion des bewussten Umbauens versunken, bemerkte ich fast schon wieder deine Nachricht nicht. ‘Der Chat ist offen‘ stand da plötzlich zu lesen und so schrieb ich ein behutsames: „Hallo“. James Joyce schrieb zurück und ich blickte doch recht perplex auf meinen Rechner. Kurz wollten meine Gedanken passend formulieren, doch ich notierte nichts: Der minimale Spielraum, der sich zu einem gewaltigen Dialog hätte entspinnen können, blieb ungenutzt. Und während ich noch im Moment verhaftet war, da konstruiertest du schon ungerührt eine 70er-Jahre Szene, als mediale Kunstform fast schon alleinstehend und doch nicht alleine stehend. In einer für meine Augen schmeichelnden Ästhetik waren die Gefühle zwiespältig, dieses Bild aufzuzeichnen, um mich an ihn, an ihn, an ihn … an dich zu erinnern. Ich tat es nicht und folgte nur weiter den Regeln der kommenden Umfragen mit deiner gewährten Handlungsmacht.
Im stetigen Verlauf des Abends ließen die sorgfältig geplanten Lücken in deinen Darstellungsweisen geräumige Öffnungen, so verschließe ich diese auch in diesem medialen Brief nicht: Für weitere Personen, die einen Abend mit dir verbringen möchten, mit der sicheren Gewissheit, dass es mit Sicherheit keinen zweiten Abend genauso und vielleicht auch nicht mit dir, Ole, als Einschreibung meines wahrgenommenen Gegenübers, geben wird.
Ich hole mir ein paar Kekse zu den Schnäpsen und der Wurst von letzter Nacht. Es ist nicht meine Entscheidung und doch entschied ich rigoros die Wahrnehmung auf uns mit: Am Ende des Abends entzog ich mich einer eigenen Öffnung für dich, für uns, und bereue die fehlende Zuschreibung im entstandenen Identitäts-Kollektiv doch nicht. Es bleibt: eine vorläufige Bekanntschaft mit deinem, mit einem Du, mit meinem, mit einem, Ich.
Tina Waldeck